Über die Autorinnen
Gisela Schwager war Klinikseelsorgerin in der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen.
Christa Leidig ist Klinikseelsorgerin in der Kinder- und Jugendmedizin Universitätsklinikum Ulm.
Seelsorge in der Kinderklinik
Lebenswelt Kinderklinik 1
Drei Wochen zu früh mit weniger als 2000 Gramm kommt Mia zur Welt. Erst nach der Geburt wird ihr komplexer Herzfehler 2 diagnostiziert. Sie wird notfallmäßig auf die Intensivstation der nächsten spezialisierten Kinderklinik verlegt. Für die Familie, die Eltern, die fünfjährige große Schwester Frieda, Großeltern und Freunde, ist die vertraute Welt aus den Fugen geraten.
Ich lerne Mias Vater drei Tage nach ihrer Geburt auf der Intensivstation kennen. Im Arm hält er seine kleine Tochter: verkabelt, mit Sauerstoffbrille und einer Magensonde in der kleinen Nase, über ihr zwei blinkende Monitore. Die Ereignisse der letzten Tage sprudeln aus ihm heraus, dabei ruht sein Blick fest auf der kleinen Mia. Für ihn und seine Frau sei mit dem unerwarteten Befund alles in sich zusammengestürzt. Er wisse nicht, wie es nun weiter gehen solle. Seine Frau sei kaum in der Lage auf die Intensivstation zu kommen und ihre kleine Tochter so hilflos zu sehen. Dabei müssten Entscheidungen getroffen werden, doch »Wie soll ich denn wissen, was für unsere Kleine richtig ist?«. Daheim werde die große Tochter von den Großeltern betreut und frage ständig nach ihnen. Was soll er ihr sagen? Sorge und Angst vermischen sich mit Hilflosigkeit und Ohnmacht.
Als klar ist, wann Mia operiert wird, bitten die Eltern um ein Gebet. Ich lasse einen kleinen Engel mit einem Segensband da und zeige ihnen die Kapelle, einen Ort zum Innehalten, Beten und Kerzen anzünden während der bangen Zeit des Wartens. Zunächst erholt sich Mia, doch dann kommt es zu krisenhaften Situationen. Eine zweite, große Operation wird notwendig. Es ist offen, ob und wie Mia diesen Eingriff überstehen wird. Was soll/kann/darf im Ernstfall noch gemacht werden? Wieder stehen schwierige Entscheidungen an. Der Wunsch nach einer Taufe für die inzwischen drei Monate alte Mia entsteht: ein Ritual der Liebe in aller Angst. Ein Zeichen für das »Ja« Gottes zu Mia in aller Ungewissheit. Eine gemeinsame Feier, die vergewissert, wir gehören als Familie zusammen. Die große Schwester bringt ihr zur Taufe ein Bild mit: Es zeigt die Familie zu viert im eigenen Garten. Nach drei Monaten kann Mia endlich nach Hause. Weitere Aufenthalte in der Kinderklinik werden zu ihrem Leben gehören.
Jedes Patientenkind, ob Frühchen oder Jugendliche, bringt »seine Lebenswelt« in die Klinik mit: Menschen, die zu ihm gehören, Eltern, Geschwister, Großeltern und Freund:innen, dazu die eigenen Vorlieben und Abneigungen, Hobbys und Interessen. Diese Vielfalt an Menschen und Themen fordert Seelsorger:innen heraus. Begleitungen sind komplex und überraschend.
Ansprechen und ansprechbar sein
Die Welt des Krankenhauses ist für Kinder und ihre Umgebung fremd und verunsichernd: ein Körper, dem man nicht mehr trauen kann, piepsende Monitore, Begriffe, die unaussprechbar sind und Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Es braucht Zeit, um im Mikrokosmos Klinik anzukommen – äußerlich wie innerlich. Als Klinikseelsorgende versuchen wir diese Situationen aufzunehmen und mit auszuhalten: in Gesprächen über das Unfassbare, im Zulassen der wiederkehrenden Frage nach dem »Warum« oder im Ernstnehmen der Schuldgefühle, die Eltern immer wieder einholen: Haben wir etwas falsch gemacht?
Kinder reagieren in der fremden Umgebung der Klinik oft erst einmal mit Rückzug. Vertraute Personen sind ihr Halt. Es braucht eine behutsame Kontaktaufnahme, eine erste Kommunikation mit dem Kuscheltier, einen gemeinsamen Blick auf YouTube usw. Die »Sprache« der Seelsorge ist dabei vielfältig: Mimik, Gestik, Smalltalk, intensives Gespräch, stilles Dasein oder unbeschwertes Spiel. Religiöse und auch sprachliche Grenzen treten zurück.
Heilsame Räume öffnen
Intuitiv verstehen sich Eltern als Beschützer ihrer Kinder. Wenn Eltern jedoch ihre eigene Hilflosigkeit erleben, gerät ihr Selbstverständnis ins Wanken. In dieser Situation kann ein geistliches Ritual hilfreich sein, quasi ein »Raum«, in dem sich Eltern und Kinder Gott anvertrauen können. Etwa ein Segenslied beim Verabschieden oder ein Turbogebet zwischen Tür und Angel vor der OP. Gottesdienstliche Feiern im Spielzimmer, in denen Kinder und Eltern Sorgen und Hoffnungen symbolisch ausdrücken können. Oder am Sterbebett eines Kindes, wenn Familien und Mitarbeitende zu einem Abschiedsritual zusammenkommen. Als Klinikseelsorgerinnen können wir solche Räume anbieten, was darin entsteht, bleibt unverfügbar.
Vernetzen und vernetzt sein
In der Kinderklinik arbeiten viele verschiedene Professionen zusammen: Medizin, Pflege, Psychosozialer Dienst, Physiotherapie... In dieses interprofessionelle Setting bringt die Seelsorge ihr eigenes Profil ein. Es braucht Präsenz im Klinikalltag und Absprachen mit den unterschiedlichen Teams. Auch für die Anliegen der Mitarbeitenden ist die Klinikseelsorge offen. Je nach Situation nimmt sie Kontakt auf zur Heimatgemeinde einer Familie.
Das Besondere
»Ist die Arbeit in der Kinderklinik nicht belastend?« Diese Frage wird Kinderklinikseelsorger:innen oft von Außenstehenden gestellt. Ja, es geht nahe und ist oft belastend, weil man am Leben von Kindern und Familien Anteil nimmt, die ein herausforderndes und schweres Schicksal haben. Doch zugleich steckt die Kinderklinik voller Leben: Hier wird geweint und herzhaft gelacht, hier werden Abschiede geteilt und Geburtstage gefeiert. Hier ist das Leben zerbrechlich und intensiv. Das macht die Arbeit in der Kinderklinik besonders.
1 In Württemberg gibt es 24 ausgewiesene Kinderkliniken in unterschiedlichen Größen mit verschiedenen Schwerpunkten, u.a. für zu früh geborene Kinder, für Kinder mit Herzfehlern, Krebserkrankungen, chronischen Krankheiten oder Handicaps. Die Klinikprofile prägen die konkrete Arbeit vor Ort, verbindend sind die Kinder, deren Leben bereits im Heranwachsen ganz anders und unplanbar verläuft
2 Etwa eines von 100 Kinder wird mit einem Herzfehler geboren