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Pfarrer i.R. Ulrich Gratz ist ehemaliger Ansprechpartner für die Notfallseelsorge im Landkreis Ludwigsburg

Notfallseelsorge

Ich habe erst heute Vormittag die Rufbereitschaft übernommen, da alarmiert mich auch schon kurz darauf die Integrierte Leitstelle zu einer laufenden Reanimation eines ein Monate alten Säuglings im Nachbarort. Erster Gedanke: »Bitte nicht!« Der Plötzliche Kindstod, den ich hinter dieser Alarmierung vermute, ist eine solche Tragödie, dass sie auch den routiniertesten Notfallseelsorgern an die Nieren geht. Ich überlege kurz, ob ich jemand anderen fragen soll, der/die unter Umständen für diesen Einsatz besser qualifiziert wäre, oder ob ich gleich die Unterstützung durch weitere Notfallseelsorger:innen erbitten soll – beides wäre leicht möglich. Aufgrund des sehr kurzen Anfahrtswegs und der noch laufenden Reanimation entscheide ich mich dafür, sofort selbst hinzugehen.

Ich treffe im recht und schlecht zur provisorischen Wohnung umgebauten Bahnhof, direkt an einer viel befahrenen Bahnstrecke, auf eine griechische Familie, Oma, Opa, alleinerziehende Mutter und einziges Kind, das gerade reanimiert wird. Der Opa sitzt verzweifelt still im Freien, Oma und Mutter, die im kombinierten Wohn-Schlafzimmer sitzen, durch das die Wohnung direkt von der Straße aus betreten wird, schauen mich mit weit aufgerissenen Augen an und nicken nur in Richtung eines Durchgangszimmers. Dort steht ein Tisch, der zu drei Vierteln mit Metallteilen der Heimarbeit bedeckt ist, mit der die Familie offensichtlich ihren Lebensunterhalt bestreitet. In einer freigeräumten Ecke liegt eine Puppe auf diesem Tisch, 5 Rettungskräfte stehen ringsum in diesem kleinen Raum und schütteln den Kopf, als sie mich sehen. Der Notarzt zeigt sich sehr erleichtert, dass ich so schnell da bin und bestätigt die Vermutung, die ich schon bei der Alarmierung hatte. Ich schaue mich suchend um, wo denn wohl das Kind ist – da wird mir erst bewusst, das ist die »Puppe«, die da auf diesem Arbeitstisch liegt. Erst jetzt sehe ich auch bewusst Tuben, Kanülen und Elektroden … am verstorbenen Kind. Das Bild ist so surreal, dass ich Zeit brauche, es zu begreifen. Der Notarzt bittet mich, der Familie zu sagen, dass ihr Kind gestorben ist. Ich bitte ihn, in Kürze hinzu zu kommen, um die medizinischen Hintergründe zu erläutern und die Familie von dieser Seite, so weit es geht, zu entlasten. Als ich den anderen Raum wieder betrete, werde ich sofort mit der Frage konfrontiert: »Ist sie tot?« Als ich nicke, erstarrt die Oma und bleibt für die nächste Zeit starr und regungslos sitzen. Die Mutter sackt kurz in sich zusammen und geht dann schreiend und wild gestikulierend auf ihren Bruder zu, der gerade den Raum betritt. In den folgenden drei Stunden bin ich ständiger Ansprechpartner, Organisator und Gewährsmann zunächst für die Leute vom Hubschrauber, vom Rettungswagen, von der Schutzpolizei, der Kriminalpolizei und schließlich für den Bestatter. Sie alle sind sehr froh, dass ein Mittler zwischen ihnen und den Betroffenen vor Ort ist. An ihren jeweils herzlichen Verabschiedungen merke ich, wie entlastend es auch für sie als Einsatzkräfte ist, wenn frühzeitig Notfallseelsorge vor Ort ist. Ich versuche, die inzwischen nach und nach eingetroffenen Brüder, Schwägerinnen, Kinder, Freundinnen, Verwandte so miteinander in Beziehung zu bringen, dass sie einander guttun, und dass angesichts der nahen Bahnlinie niemand Kurzschlusshandlungen begeht. Die inzwischen fast nicht mehr zu ertragende Enge in den Räumlichkeiten führt dazu, dass sich Gruppen immer wieder nach außerhalb begeben. Mit der Großmutter, die bis zum Eintreffen des Notarztes reanimiert hatte, führe ich in dieser Zeit ein sehr intensives Gespräch, das sie sichtbar entkrampft. Dank der sensiblen und zugewandten Beamten der Kriminalpolizei ist es möglich, dass sich die Großeltern und die Mutter von ihrem Kind verabschieden. Sie sind dankbar für ein christliches Abschiedsritual mit Kerzenschein und Sterbesegen. Ihre Gesten und Worte für das Kind hinterlassen eine tiefen Eindruck bei mir und begleiten mich seither.

Nach etwa vier Stunden ist der Einsatz für mich beendet. Ich fahre nach Hause und melde der Leitstelle den Abschluss meines Einsatzes. Das anschließende Schreiben des Einsatzprotokolls dient nicht nur der Dokumentation. Es hilft mir, Abstand zu gewinnen und das Erlebte zu verarbeiten. Später wird mir hierzu auch die Supervision in der Gruppe helfen, die für unser Team unentbehrlich und deshalb auch verpflichtend ist.

In der folgenden Zeit lasse ich der griechischen Familie Unterlagen der entsprechenden Selbsthilfegruppe/Organisation und die Adresse einer geeigneten Therapeutin in der näheren Umgebung zukommen.

In der Nachbetrachtung des Einsatzes bin ich sehr froh darüber, für solche Einsätze gut aus- und fortgebildet zu sein und bei Bedarf auch vor, während und nach dem Einsatz jederzeit Unterstützung zu bekommen, wenn ich sie brauche und anfordere.

Für die Mitarbeit in der Notfallseelsorge ist eine spezielle Ausbildung erforderlich, die zusätzlich zu einer seelsorgerlichen Grundausbildung mindestens 80 bundesweit verbindliche Unterrichtseinheiten für die Arbeit in der psychosozialen Notfallversorgung (PSNV) beinhaltet.

In den Medien taucht die Notfallseelsorge immer dann auf, wenn ein großes öffentliches Unglück geschieht, in dem viele Betroffene akute Betreuung brauchen. Ein Amoklauf oder ein Terroranschlag wie auf dem Berliner Breitscheidtplatz. Dabei hat sich die Notfallseelsorge im Rahmen der psychosozialen Notfallversorgung inzwischen als unverzichtbar etabliert und erreicht Menschen auch jenseits kirchlicher Zugehörigkeiten.

Der Alltag der Notfallseelsorge geschieht allerdings unbemerkt von der Öffentlichkeit. Schwerpunkt der Arbeit sind zu ungefähr einem Viertel gemeinsame Überbringungen von Todesnachrichten zusammen mit der Polizei. Ein weiteres Viertel betrifft erfolglose Reanimationen. Das nächste Viertel sind Einsätze rund um suizidale Handlungen. Und das letzte Viertel setzt sich dann aus Unfällen aller Art, Bränden, Lebenskrisen, Verbrechen und Beratungsgesprächen zusammen.

Einzelne Notfallseelsorger engagieren sich auch in der Einsatzkräftenachsorge. Sie betreuen Einsatzkräfte der verschiedenen Hilfsdienste und Organisationen nach besonders belastenden Erfahrungen in schweren Einsätzen. Dafür haben sie sich mit zusätzlichen Ausbildungen nach CISM oder SbE qualifiziert.

Ansprechpartner für die Notfallseelsorge auf Ebene der Evangelischen Landeskirche in Württemberg ist Kirchenrat Ulrich Enders. Kontakt: notfallseelsorge@elkw.de

Kontakt und Informationen

Ev. Pfarramt für Polizei und Notfallseelsorge

Kirchenrat Ulrich Enders

Landespolizeipfarrer, Beauftragter für Notfallseelsorge

Alte Rommelshauser Straße 18
71332 Waiblingen

Telefon: (07151) 9114610

Mail: notfallseelsorge@elkw.de
Web: Notfallseelsorge in der Ev. Landeskirche in Württemberg

Weiter Informationen

Web: Notfallseelsorge Baden-Württemberg