Über den Autor
Gerhard Kern ist Militärdekan in Ulm und Stellvertretender Leitender Militärdekan für Süddeutschland. Seit 2006 arbeitet er als Militärpfarrer.
Militärseelsorge
Alles ist anders am 24. Dezember 2011. Die Nacht ist bitterkalt, die Armut der Einheimischen kaum zu ertragen. Die Sterne am Himmel leuchten um die Wette. Das Heimweh hat Hochsaison. Die Küchenmannschaft gibt ihr Bestes. Und die Sehnsucht nach einer gerechten und heilen Welt brennt in den Herzen wie nie. Weihnachten 2011 erlebe ich in Afghanistan. Seit zwei Monaten bin ich Militärseelsorger im Feldlager Faizabad in der Gebirgsprovinz Badachschan. Die Provinz ist flächenmäßig so groß wie Dänemark, landschaftlich jedoch stark zerklüftet und schwer zugänglich. Es ist eine der ärmsten Regionen der Welt.
Das Feldlager der Bundeswehr liegt in einem Hochtal auf 1400 Metern Höhe. Hier wohnen und arbeiten Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr. Die Männer und Frauen, meist im Alter zwischen zwanzig und fünfzig Jahren, sind aufgewachsen in einem der sichersten und reichsten Länder der Erde: in Deutschland. Jetzt sind sie siebentausend Kilometer von der Heimat entfernt. Sie unterstützen die afghanischen Verantwortlichen beim Wiederaufbau und Friedensprozess, im Auftrag des deutschen Bundestages und mit UN-Mandat. Im Lager gibt es noch weitere Mitbewohner aus Deutschland: Bundespolizistinnen und -polizisten, Entwicklungshelfer der GIZ, Angehörige der deutschen Botschaft und der UN. Und dann sind da noch die Vertreter aus anderen Nationen: Mongolen, Kanadier, Schweden, Amerikaner, Japaner, Inder, Pakistani, usw. Auch sie sind Teil der UN-Mission.
Und nun ist Heiligabend. Die afghanischen Lagerarbeiter grüßen uns wie immer zu Tagesbeginn mit einem fröhlichen »Salam!« (Friede!). Heute aber klingt es noch fröhlicher. Die muslimische Bevölkerung draußen im Land weiß, dass wir »Christen aus der westlichen Welt« die Geburt Christi feiern. Auch die mongolischen Soldaten im Lager wissen es. Sie sind zwar Buddhisten, aber sie wollen uns zum Fest unbedingt ein Geschenk machen. Sie haben Lieder aus ihrer Heimat Mongolei eingeübt. Zum Gottesdienst ins große Zelt drängen sich deutsche Staatsbürger mit und ohne Uniform. Ebenfalls anwesend sind Angehörige der anderen Nationen. Nicht alle sind Christen. Aber das scheint egal zu sein. Wir sind im Lager eine Gemeinschaft und jetzt feiern die Christen ihren Gottesdienst wie gewohnt: mit ihren Liedern, den Gebeten, dem Weihnachtsevangelium nach Lukas, dem Krippenspiel und der Predigt. Aber schon die Lesung klingt, als wären alle gemeint, weil doch die Weihnachtsbotschaft »allem Volk widerfahren wird«. Unvergesslich dann das Krippenspiel. Es wird von Erwachsenen aufgeführt. Das ist Tradition im Auslandseinsatz. Soldatinnen und Soldaten schreiben es. Es hat gedankliche Tiefe und eine geheimnisvolle Wirkung. Die Geburt des Gottessohnes inmitten von Elend. Das Licht in der Dunkelheit. Alle wissen, wovon die Rede ist. Die extreme Armut der Menschen draußen in der kargen Bergregion, das Heimweh, das Lachen beim Krippenspiel, der Kloß im Hals beim »Oh du fröhliche« - in der elementaren Einfachheit eines Bundeswehrlagers, gefühlt am Ende der Welt bringt das Weihnachtsevangelium einen unerwarteten Glanz in eine lichtlose und bitterarme Region. So musste es gewesen sein, als der Himmel sich öffnete. In eine solche rettungsbedürftige Welt hinein musste Christus geboren worden sein.
Nicht nur an Weihnachten, jeden Sonntag feiern Militärseelsorgerinnen und Militärseelsorger im Einsatzland Gottesdienste mit ihrer »Gemeinde«. Denn wer als Soldat vom Bundestag in einen Einsatz fern der Heimat geschickt wird, hat sozusagen das Recht, dass der Staat den Zugang seiner Religionsgemeinschaft zu ihm gewährleistet und organisiert. Die Militärseelsorge ist der von den Kirchen geleistete, vom Staat gewünschte und unterstützte Beitrag zur Sicherung der freien religiösen Betätigung in den Streitkräften. Dies basiert auf dem unveräußerlichen Grundrecht auf Religionsfreiheit, dem garantierten Recht auf ungestörte Religionsausübung (Grundgesetz Art 4. (2)).
Auch zu Hause an den Standorten feiern Militärseelsorger ihre Gottesdienste, in der Kirche, im Grünen (»auf dem Feld«) und bei Übungen. Dann stehen außerdem auf dem Dienstplan Kirchenkaffee, Andachten zum Wochenschluss, Seelsorgegespräche, ethischer Unterricht, Time-Out-Seminare oder Seminare für Einsatzrückkehrer, und Freizeiten mit den Familien, genannt »Rüstzeiten«. Auch Trauungen, Taufen und Beerdigungen gehören zu den Aufgaben der Militärgeistlichen. Die Geistlichen haben Zugang zu allen Kasernen und Ausbildungseinrichtungen der Bundeswehr. Sie stehen den Soldaten aller Dienstgrade und deren Familienangehörigen zur Seite. Dabei werden sie von jeweils einem Pfarrhelfer bzw. einer Pfarrhelferin unterstützt.
Die Arbeit der Militärseelsorge ist dabei »von staatlichen Weisungen unabhängig«. Die Militärpfarrer und Militärpfarrerinnen sind ausschließlich gebunden an ihr Ordinationsversprechen sowie den geistlichen Auftrag, über den die Kirche wacht. Sie stehen auf dem Boden friedensethischer Grundsätze, wie sie in der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 formuliert sind. Ein hohes Gut und ein Alleinstellungsmerkmal ist im hierarchischen System der Bundeswehr das Beichtgeheimnis. Seelsorge, gerade im Auslandseinsatz, hat deshalb viele Themen und viele Anlässe. Da zeigt ein Soldat auf seinem Smartphone gerührt das Ultraschallbild seines ungeborenen Kindes. Seine Frau hat es ihm soeben gemailt. Da braucht ein Anderer unterstützende Begleitung oder auch einen schnellen Rückflug, weil zu Hause die geliebte Großmutter gestorben ist. Da ist der Soldat, der Post von einer Scheidungsanwältin in den Einsatz gesandt bekommt. Zwei Soldaten bitten um einen neutralen Vermittler wegen einer schwierigen Situation in der Dienstgruppe. Der Kommandeur möchte wegen einer Führungsentscheidung eine unabhängige Meinung. Und da sind die Soldaten, die einfach nur das Unfassbare loswerden müssen, das sie auf der Patrouille gesehen haben. Sie möchten in die Kirche eintreten, aus der Kirche austreten, sie möchten die Konfession wechseln, die Unterschiede zwischen katholisch und evangelisch wissen, mehr über den Islam erfahren, sie sind enttäuscht wegen des friedensethischen Populismus in ihrer Kirche, sie hinterfragen die Sinnhaftigkeit ihres Einsatzes, sie fragen nach dem Grund für das Böse in der Welt, nach der Wahrheit Gottes, sie freuen sich oder verdrücken eine Träne – aus Heimweh oder wegen der Lebensumstände der Menschen im Einsatzland.
Die Militärgeistlichen aller Nationen genießen den Schutz des Genfer Abkommens von 1949. Entsprechend müssen sie bei Übungen oder Auslandseinsätzen aus Gründen der Erkennbarkeit den Talar gegen den Flecktarnanzug eintauschen. Auf den Schulterklappen befindet sich anstelle des Dienstgradabzeichens ein Kreuz mit dem Schriftzug »Domini Sumus« (»Wir gehören zum Herrn«).
Beim Krippenspiel spielten Soldaten, die gerade von einer Patrouille aus den Bergen zurückgekehrt sind, die »Hirten vom Felde«. Drei Wochen hatten sie unter freiem Himmel geschlafen, oft in der Nähe von Ziegen, Schafen oder Eseln. Auch Ungeziefer gab es. Diese Soldaten spielten sehr überzeugend, wie sich Hirten vom Felde fühlen. Auf die improvisierte Kleidung der Maria waren wir besonders stolz. Sie trug eine Burka. Während man die einheimischen Frauen darin nur vollverschleiert sah, hatten wir die Burka von Maria vorne aufgeschnitten. Unsere Maria, die Mutter Jesu, war eine emanzipierte Frau. Sie zeigte Gesicht.
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Evangelisches Militärpfarramt Ulm I
Ansprechpartner
Militärdekan
Wilhelmsburgkaserne (Gebäude 103)
Stuttgarter Straße 199
89081 Ulm
Telefon: (0731) 1690-1771
Mail: Gerhard1Kern@Bundeswehr.org
Web: Evangelisches Militärpfarramt Ulm I
weitere Informationen
Bundeswehr: Ev. Militärseelsorge bei der Bundeswehr
Landeskirche: Militärseelsorge im Bereich der Ev. Landeskirche in Württemberg