Über den Autor

© Reiner Pfisterer

Krischan Johannsen ist ehemaliger Leiter der Telefonseelsorge Stuttgart

Telefon­seelsorge

Es ist früher Nachmittag, als das Telefon im Beratungszimmer der TelefonSeelsorge klingelt. Eins von etwa 60 Gesprächen, die hier täglich geführt werden. Es meldet sich eine junge Frau. Sie ist völlig außer sich vor Schmerz. Ihre Freundin hat sie verlassen. Und das ausgerechnet jetzt, wo es ihr so schlecht geht. Ein Arbeitsvertrag wurde nicht verlängert und sie ist auch noch krank geworden. Es dauert lange, bis zwischen all dem Weinen eine Unterhaltung zustande kommt. Die Anruferin ist manchmal kaum zu verstehen. Sie schwankt zwischen Trauer, Schmerz, ungeheurer Wut und Rachegedanken. Immer deutlicher wird, was Sie wirklich will. Sie will sterben. Sie will so nicht leben. So verlassen zu werden – das war für sie das letzte und wie endgültige Zeichen, dass sie nicht auf dieser Welt gewollt ist. Es wird ein langes Gespräch, bei dem die Seelsorgerin erst nur wenig mehr tun kann, als den hin und her hüpfenden wilden Gefühlen der Anruferin zu folgen. Sie ist selbst ganz betroffen, aber sie schafft es, den Raum zu halten. Auch ohne Worte dafür zu verwenden, vermittelt sie ganz offensichtlich der jungen Frau am Telefon das Gefühl, dass sie hier abladen kann, was immer sie bedrückt. Nach einer Zeit wird die Anruferin ruhiger. Jetzt kann sie von ihrer Hilflosigkeit reden und davon, wie schwer es ist, dieses Gefühl zu ertragen. Sie kann benennen, wie sehr sie an der Erfahrung leidet, hinausgeworfen worden zu sein aus der Liebesbeziehung und aus ihrer Arbeit. Sie fühlt sich wie ein Stück Dreck, das entsorgt wurde. Für sie ist es logisch: »Wenn ich so ausgemustert werde – dann kann ich mich gleich selber umbringen«. Dabei hat sie doch diese eine große Sehnsucht: gesehen zu sein, respektiert zu werden. Geliebt vielleicht. Geborgen. Sie wird ruhiger. Weil sie keine guten Ratschläge hört, ist Raum für ihr Eigenes. Es geht gar nicht um den nächsten Schritt, es geht nicht um Rezepte für das richtige Leben – es braucht vor allem einen Raum, in dem die Anruferin ohne jede Scheu ganz das sein kann, was sie ist. So erfährt sie in ihrer Not genau das, was ihr fehlt. Geborgenheit. Respekt. Begegnung auf Augenhöhe. Am Ende legt sie deutlich ruhiger auf. Heute wird sie sich nicht das Leben nehmen. Ob sie morgen noch einmal anrufen wird? Man kann es nicht wissen. Vielleicht schon.

TelefonSeelsorge ist ein wichtiger Teil der kirchlichen Seelsorgearbeit. Sie ist dann da, wenn sie gebraucht wird. Rund um die Uhr. Das ganze Jahr. Sie ist unaufdringlich Kirche in einer Welt, die mit Kirche fast nichts mehr anzufangen weiß. Die ganz überwiegende Zahl der Anrufenden – sicher weit über 90 % hat mit Kirche gar nichts am Hut. Dennoch nutzen sie das Angebot. Die Telefonseelsorge bietet extrem niederschwellig Seelsorge, wie im Vorübergehen. Sie hat immer nur eine einzige, erste Chance, die Menschen, die per Telefon Mail oder im Chat Hilfe suchen, zu erreichen. Um das zu können, braucht es eine hohe Kompetenz und immer wieder eine gründliche Reflexion über Seelsorge und darüber, wofür die TelefonSeelsorge steht.

Vor ungefähr sechzig Jahren entstanden in Deutschland die ersten Telefonseelsorgestellen. In Württemberg war es die Evangelische Telefonseelsorge in Stuttgart, die 1960 als erste den Dienst aufnahm. Ein kleiner Verein, der bis heute zwar auch von kirchlicher Seite Unterstützung bekommt, aber ganz überwiegend von Spenden lebt. Die ersten ehrenamtlichen Mitarbeitenden waren Stuttgarter Dekane und ihre Frauen, der Landesbischof, einige Sozialarbeiterinnen. Eine spezielle Ausbildung hatten sie nicht. Bald war klar, dass es das braucht. Die Anrufe waren schon damals fordernd, schwer, nicht mit guten Ratschlägen abzutun. Seit weit über vierzig Jahren bekommen alle Ehrenamtlichen eine gründliche Schulung, bevor sie telefonieren – oder heute auch mailen oder chatten. Fast 500 Stunden kommen in den zwei ersten Jahren zusammen – ungefähr so viel, wie hauptberufliche Berater:innen an Beratungsstellen an Mindestausbildung haben. Seelsorge ist es immer noch. Seelsorge braucht Kompetenz.

An der Arbeit der Telefonseelsorge kann man Seelsorge wie im Brennglas studieren und einige Aspekte besonders gut erkennen.

Seelsorge braucht die richtige Haltung. TelefonSeelsorge zeigt immer wieder: Wir müssen uns ganz einschwingen auf die Anrufenden oder Mailer:innen. Das geht nur, wenn wir uns als Gleichgestellte erleben, als Mitmenschen. Diese innere Haltung muss viel tiefer gehen, als man sich das theoretisch erdenken könnte. Sie braucht die ganze Hinwendung zum Anderen – und das ist manchmal ausgesprochen fordernd und anstrengend, aber immer lohnend.

Seelsorge braucht die Bereitschaft, den anderen wirklich anzuhören. Das geht nur, wenn wir ganz verzichten, den Anrufenden sagen zu wollen, was für sie gut wäre. Das sagt sich leicht, aber es ist ungeheuer schwer für ehrenamtliche wie hauptberufliche Seelsorger:innen, auf ein Helfen -Wollen, auf Gutmenschentum und Besserwissen zu verzichten. Hin und wieder kann eine Information im Gespräch richtig sein. Ein Zurechtbiegen der Anrufenden, wie subtil es auch immer sein mag, erzeugt nur Widerstand.

Seelsorge braucht Begegnung. Sie braucht unsere Bereitschaft, für die Zeit des Kontakts wirklich ganz da zu sein. Anrufende dürfen spüren, dass wir betroffen sind, Mailer oder Chatter dürfen erfahren, dass wir mitfühlen. Sie dürfen uns als Mitmenschen erleben, die sich in einer guten Weise zeigen. Mitfühlend, haltend, Raum gebend, zugewandt und vor allem ehrlich und mutig – aber nicht korrigierend. Gar nicht selten übrigens werden wir in unseren Gesprächen dann doch nach Gott, nach Gebeten gefragt. Gerade von Menschen, die seit Jahren nie eine Kirche betreten haben.

TelefonSeelsorge lebt davon, dass sie Raum gibt. Dass sie einer der wenigen Orte in unserer Gesellschaft ist, zu dem man immer und von überall her kommen kann – auch aus dem Ausland. Diesen Raum zu geben, der niemanden ausgrenzt. Auch nicht jene, die nicht aus dem Bett kommen, keine Arbeit finden, sich nicht pflegen, wütend sind, kratzbürstig sind, trotzig, verzweifelt, bitter. Sie gibt den Raum in jedem Fall. Das bedeutet, dass die Ehrenamtlichen bei der TelefonSeelsorge sich unablässig mit drei Gefühlen beschäftigen müssen. Diesen kann niemand entrinnen, der sich wirklich auf Seelsorge in diesem Medium einlässt:

Wer Telefonseelsorge macht, muss akzeptieren, zutiefst hilflos zu sein und zu bleiben. Man kann dem nicht entrinnen. Man kann nichts zwingen, ändern, verschieben.

Wer Telefonseelsorge macht, muss bereit sein, sich der Einsamkeit zu stellen. Der Einsamkeit der Anrufenden und der eigenen Einsamkeit. Es braucht diese Auseinandersetzung, damit der Druck aus den Gesprächen weg geht.

Wer TelefonSeelsorge macht, muss bereit sein, zu scheitern. Nicht zu helfen. Das ist schwer. Es tut so gut, wenn wir erfolgreich helfen können. Man lernt aber in dieser Arbeit: Es hilft am meisten und erreicht am meisten, wenn man diesen inneren Drang weg lässt.

Die Telefonseelsorge wird sehr oft nachgefragt. Sie wird gebraucht und braucht Menschen, die sich ganz einlassen. Sich einlassen auf Einsame, auf Trotzige, auf Verbitterte, auf Verlassene, auf Wütende, auf solche, die nur manchmal vorbei kommen und auf solche, sie sich fast täglich melden mögen, weil da sonst niemand ist. Sie ist kein romantisches Geschäft wohlmeinender Menschen. Sie ist mittendrin. Unsichtbar. Und vielleicht auch wirksam. Ist das das Wichtigste an guter Seelsorge? Dass sie von Menschen ausgeübt wird, die sich ganz auf die Begegnung einlassen, ohne auf Wirksamkeit zu drängen? Die einfach nur vertrauen?

Kontakt und Informationen

Evangelische TelefonSeelsorge Stuttgart

Martina Rudolph-Zeller

Leiterin

Evangelische TelefonSeelsorge Stuttgart
c/o Evangelische Gesellschaft Stuttgart e.V.
Büchsenstraße 34/36
70174 Stuttgart

Telefon: (0711) 28075610 (Sekretariat)

Mail: info@telefonseelsorge-stuttgart.de
Web: TelefonSeelsorge Stuttgart