Über den Autor
Johannes Bröckel ist ehemaliger Pfarrer in der AltenPflegeHeimSeelsorge, Fachstelle AltenPflegeheimSeelsorge in der evangelischen Landeskirche Württemberg
Seelsorge im Alter
Ich bin heute auf der Palliativstation im Altenpflegeheim unterwegs. Seit einigen Wochen besuche ich Frau Müller (70 Jahre) auf dieser Station. Sie ist zum Sterben ins Heim gekommen. Ihr Leben hat sich von heute auf morgen drastisch verändert. Sie stand bis vor kurzem noch voll im Berufsleben. Sie wurde mitten aus ihrem bis dahin aktiven Leben ins Krankenhaus eingeliefert. Dort lautet der niederschmetternde Befund: Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Nach einer schwierigen Operation wurde sie nach wenigen Tagen auf die Palliativstation ins Altenpflegeheim verlegt. Aus vorhergehenden Gesprächen weiß ich, dass sie sehr hadert, weil sie so unverhofft aus ihrem bisherigen Leben gerissen wurde. Heute stelle ich mich einer ganz besonderen Aufgabe. Frau Müller und ich haben vereinbart, dass wir im Rahmen der »gesundheitlichen Versorgungsplanung« darüber sprechen und festhalten, wie sie medizinisch und pflegerisch behandelt werden möchte, wenn ihre Lebenskräfte aufgrund ihrer Erkrankung Schritt für Schritt zu Ende gehen werden. Ich merke, wie angespannt ich bin. Darf man so offen über das Sterben reden? Ist Frau Müller nicht überfordert, über ihr eigenes Sterben zu sprechen?
»Wie gerne leben Sie?« Ich erschrecke selbst ein wenig über diese unverblümte Frage, die ich an sie richte. Ich spüre, wie Frau Müller mit sich kämpft. Bin ich ihr zu nahe getreten? Die beratenden Gesprächen zur gesundheitlichen Versorgungsplanung verfolgen das Ziel, die Einstellung zum Leben und zum Sterben von Menschen zu erfahren und zu benennen. Es ist mit Händen zu greifen, wie Frau Müller mit sich ringt. Sie schweigt lange. Plötzlich beginnt sie zu reden. Sie erzählt, was sich in ihrem Kopf festgesetzt hat, seitdem sie hier auf der Palliativstation im Altenpflegeheim darauf wartet zu sterben.
»Wissen Sie«, beginnt sie stockend, nach Worten suchend, »Ich kann es nicht verstehen, warum ich mit 70 Jahren so krank geworden bin. Das habe ich nicht verdient. Ich hadere mit meinem Leben. Ich bin auch mit Gott in diesem Punkt nicht zufrieden. Ich habe bisher viel gearbeitet. Ich bin gerne aufgestanden und habe mich in unserem Betrieb eingesetzt. Das war mein Leben. Und jetzt? Schauen sie mich an. Was sehen sie? Ich bin eine alte, kranke Frau, die nichts mehr kann! Ich koste die Gesellschaft sehr viel Geld. Ich bin meiner Familie nur noch eine Last. Ich weiß nicht, ob ich das meiner Familie noch lange zumuten kann und möchte? Ich habe stets gerne und viel gearbeitet. Ich war immer die letzte, die am Abend nach Hause gegangen ist. Ich habe mein Selbstwertgefühl davon abgeleitet, dass ich mehr und besser gearbeitet habe als meine Angestellten. Im Betrieb war ich wer. Da bin ich anerkannt worden. Und jetzt? Ich bin zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich liege nur noch herum. Das kann ich nicht verstehen.«
In die nun folgende lange und bedrückende Pause hinein beginnt Frau Müller wieder zu reden: »Eines muss ich aber noch erzählen! Gestern war die Stationsleiterin bei mir im Zimmer, um mich zu versorgen. Nachdem sie mich fertig gerichtet hatte, ging sie ohne ein Wort aus dem Zimmer. Kurz darauf kam sie wieder zurück. Sie stand am Kopfende von meinen Bett und sagte ziemlich unvermittelt: ›Frau Müller, nur dass sie es wissen; Sie gehen jetzt noch nicht! Wir brauchen Sie noch hier auf unserer Station!‹ Nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, ging sie unvermittelt aus dem Zimmer. Seltsam, was die Stationsleiterin zu mir gesagt hat«, sinniert Frau Müller. »Ich habe es zuerst gar nicht verstanden, was sie mir gesagt hat. Aber es ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Es hat sehr lange gedauert, bis ich begriffen habe, was sie mir gesagt hat. Die mögen mich auf der Station. Die Pflegekräfte kommen gerne zu mir ins Zimmer. Ich lasse mir helfen und ich helfe ihnen, dass sie ihre Arbeit tun können. Ich bin hier anerkannt. Ich kann nichts tun und doch bin ich wer. Das habe ich bisher so noch nicht erlebt.«
Wieder nach einer bemerkenswert langen Pause setzt Frau Müller erneut an zu reden: »Wenn ich es mir überlege – ich bin ganz gerne auf der Palliativstation. Ich kann es kaum glauben, weil ich mich bisher hier nicht wohlgefühlt habe. Ich möchte nicht mehr sofort sterben. Ich möchte mein neues Leben hier auf der Station noch genießen. Ich möchte noch weiterleben.«
Wir saßen noch lange schweigend beieinander und waren bewegt, von dem, was Frau Müller entdeckt hat. Ich habe nur zugehört. Es bedarf solcher geschützten Räume, um zu entdecken, was das Leben ausmacht. Entgegen der vorherrschenden Meinung geht es auf der Palliativstation zunächst nicht um das Sterben sondern um das Leben. Es ist sehr tröstlich, im Pflegealltag dem Raum zu geben, was zählt und wichtig ist im Leben.
Die Pflegebedürftigkeit wird am Ende des Lebens im Altenpflegeheim häufig als Bruch und als Entwertung des bisherigen Lebens erfahren. Seelsorger:innen müssen aushalten, dass sie diese Brüche weder therapieren noch heilen können. Sie bringen Zeit mit und hören zu. Sie schenken vielleicht auch nur für einen Augenblick Freude, weil es gelingt das Leben zu entdecken. Es gilt auszuhalten, wenn wir uns fragen müssen, welchen Wert wir Menschen beimessen, die nicht mehr produktiv sind. Seelsorgende achten die besondere Würde, die Menschen besitzen, die auf ihre persönliche Lebensleistung schauen können und von Gott geachtete Persönlichkeiten sind.
Kontakt und Informationen
AltenPflegeheimSeelsorge in der evangelischen Landeskirche Württemberg
Pfarrer Johannes Bröckel
Fachstelle AltenPflegeheimSeelsorge
Diakonisches Werk Württemberg
Heilbronner Straße 180
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Telefon: (0711) 1656-196
Mail: Broeckel.J@Diakonie-Wuerttemberg.de
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