Über den Autor

© Collegium iuvenum Stuttgart

Roland Martin ist ehemaliger Landesgehörlosenpfarrer

Gehörlosenseelsorge

Schlüsselerlebnisse: Schön konkret!

Herr L., im Kindesalter infolge Krankheit ertaubt, war erst Anfang 60. Nach mehreren Schlaganfällen lag er im Pflegeheim. Arme und Beine gelähmt, schon seit Jahren. Vor dem »Schlag« war er Handwerksmeister mit eigenem Betrieb. Als zuständiger Gehörlosenseelsorger besuchte ich ihn, so oft ich konnte, denn geistig war er wach, er litt sehr unter seiner Hilflosigkeit. Meine Besuche, in der Regel einmal im Monat, gehörten zu den wenigen Abwechslungen seiner langen Tage. – Einmal empfing er mich mit den Worten: »Jetzt bald – ich sterbe.« Äußerlich war sein Zustand unverändert, weshalb ich fragte, woher er das denn wisse. »Ich spüre genau!« – Ich schwieg, er schaute mich erwartungsvoll an; da fragte ich: »Und dann?« Seine Antwort: »Dann: ich kann wieder hören. Ich kann wieder laufen. Dann: ich bin Millionär!« Sein Gesicht strahlte dabei. – Wenige Wochen später starb Herr L. tatsächlich.

Frau T., taub geboren, war eine kluge, lebenstüchtige Frau, etwa 80 Jahre alt. Sie gehörte zu den Opfern der NS-Rassehygienegesetze, die als »erbkrank« zwangssterilisiert wurden. In einem Gespräch über Tod und Auferstehung sagte sie: »Im Himmel – ich bleibe taub.« Auf Rückfrage antwortete sie: »Gott hat mich so geschaffen. Anders? – Kann ich mir nicht vorstellen.«

Was diesen beiden im Grunde völlig gegensätzlichen Vorstellungen gemeinsam ist: Sie sind sehr konkret. Vielleicht denken mache sogar: Sie sind beneidenswert konkret. In beiden Fällen halfen sie den Betroffenen, das eigene Sterben-Müssen mit einer hoffnungsvollen Perspektive zu verbinden, die in beiden Fällen tragfähig war.

Wer sich auf gehörlose Menschen einlässt, wer mit ihnen kommunizieren will, kann und muss sich darauf einstellen, dass es da sehr direkt und konkret zugehen kann. Dies gilt auch und vielleicht sogar besonders im seelsorglichen Gespräch. Manche Konventionen und auch verinnerlichte Regeln zur Gesprächsführung erweisen sich hier zunächst vielfach als hinderlich. Zum Beispiel kann es sein, dass mitten im Gespräch bemängelt wird: »Sie stellen mir viele Fragen – warum? Ich will Antwort von Ihnen haben!« Oder: »Warum wiederholst Du so viel von mir? Ich will Deine Meinung wissen…« Die Rollenverteilung ist meistens einfach (und vom gehörlosen Gegenüber so gewollt): Hier der/die Ratsuchende und da der/die Ratgebende. Bei einfachen Problemlagen lässt sich damit auch gut leben. Denn in vielen Fällen ist dieses Verteilung einfach Ausdruck einen Vertrauensvorschusses, wie er so bei Hörenden nur äußerst selten vorkommt.1

Bei komplexeren Konstellationen ist das anders. Da muss die Seelsorgerin oder der Seelsorger dann erklären, warum es erforderlich ist, Rückfragen zu stellen, Aussagen zu spiegeln (»Ich habe Sie so … verstanden. Stimmt das?«) und auch eigene Ratlosigkeit einzugestehen. Das kann zu enttäuschten Reaktionen führen – bis dahin, dass die enttäuschte Person anderswo Rat und Trost sucht.

1 Ich hatte ein Chefarztgespräch mit einem Gehörlosen zu dolmetschen, der eine lebensgefährliche OP vor sich hatte. Der Gehörlose antwortete dem Arzt auf fast jede der Fragen: »Sie Fachmann – Sie wissen, was richtig!« Der Chefarzt rief mich am Abend an; erschüttert und zugleich gerührt sagte er: »So viel Vertrauen von einem Patienten in derartigen Situation habe ich in meiner gesamten Praxis noch nicht erlebt.« – Das Vertrauen wurde nicht enttäuscht. Der Patient überstand die OP gut.)

Gehörlosenseelsorge der Württembergischen Landeskirche

Die Aufgabe der Gehörlosenseelsorge ist, dafür Sorge zu tragen, dass Gehörlose kirchliches Leben adäquat und barrierefrei erfahren und mitgestalten können, hierzu dienen insbesondere gebärdensprachliche Gottesdienste. Ein wichtiger Teil der Arbeit wird von Pfarrerinnen und Pfarrern im Nebenamt versehen, auch mehrere Ruheständler:innen gehören zum »Pool«. Das Landes-Gehörlosenpfarramt ist eine landeskirchliche Sonderpfarrstelle, die beim Diakonischen Werk Württemberg angesiedelt ist. Seine Hauptaufgaben sind neben Verkündigung und Seelsorge mit gehörlosen Menschen die Gewinnung von neben- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden und ihre Begleitung, Fortbildung und Vertretung. Ein weiterer Schwerpunkt sind drei bis vier Freizeiten im Jahr, in denen gehörlose Menschen aus ihrer alltäglichen Diaspora-Situation herauskommen und »Gemeinde auf Zeit« erleben können. Unterricht und Öffentlichkeitsarbeit sind ebenfalls aktuelle Aufgabengebiete. Das Landes-Gehörlosenpfarramt kooperiert mit der Beratungsstelle für Hörgeschädigte, die ebenfalls beim Diakonischen Werk Württemberg angesiedelt ist.

Kontakt und Informationen

Evangelische Gehörlosenseelsorge in Württemberg

Pfarrerin Daniela Milz-Ramming

Landespfarrerin für Gehörlosenseelsorge in Württemberg

Heilbronner Straße 180
70191 Stuttgart

Telefon: (0711) 1656-194
Fax: (0711) 165649-194

Mail: Daniela.Milz-Ramming@elkw.de
Web: Evangelische Gehörlosenseelsorge in Württemberg