Über die Autorinnen

Diakonin Sabine Horn und Pfarrerin i.R. Elisabeth Kunze-Wünsch, ehemalige Leiterin des Hospiz Stuttgart

Seelsorge im Hospiz

Lebensbilanz

Als ich das Zimmer betrat, spürte ich sofort, dass heute etwas anders war als die Tage zuvor. Herr M. lag bleich in seinem Bett, doch sein Gesicht gab eine tiefe Unruhe preis, die auch sofort, kaum hatte ich ihn begrüßt und mich an sein Bett gesetzt, aus ihm herausbrach. Sein ganzes Leben sei ein Murks und eine Katastrophe gewesen, begann er, und dann erzählte er von seinem Medizinstudium, seinen ersten Stellen und Erfahrungen als Arzt, dem Kennenlernen seiner Frau und der Gründung seiner Familie. Doch er hatte in seinem Kopf nur ein Ziel: Chefarzt einer Klinik zu werden. Dahinein legte er all seine Kraft und Zeit, und schließlich hatte er es geschafft und war der Chef einer Klinik.

Seine Frau und seine Kinder sah er nur wenig, all seine Mühen galten den Patienten und der Klinik. Und als er das bemerkte, war er alt geworden, seine Kinder längst aus dem Haus, ohne dass er sie wirklich kannte, und er wusste auch nicht, was seine Frau beschäftigt. Kurz nach der Pensionierung kam die Krankheit, nun wusste er, dass er bald sterben würde, und nichts, aber auch gar nichts, könne er ungeschehen machen, und auch nicht die Zeit mit seiner Frau, seinen Kindern nachholen. »Mein Leben, eine einzige Katastrophe!«

Noch selten war mir so eine Lebensbilanz anvertraut worden, doch nun war es ausgesprochen, ich hatte zugehört, hatte es stehen lassen. Ich, die Sterbebegleiterin vom Hospizdienst, musste nichts bewerten, war »einfach« nur da, hörte zu und wurde damit Zeugin dessen, was noch einmal ausgesprochen werden wollte oder gar musste.

Wie gut, dass es die ambulanten Hospizdienste gibt, die schwerstkranke und sterbende Menschen und ihre Angehörigen in dieser Zeit und in diesem Prozess des Sterbens begleiten. Darauf vorbereitete Ehrenamtliche kommen, wenn erwünscht, übernehmen die psycho-soziale Begleitung und lassen sich auf das ein, was der sterbende Mensch und / oder seine Zugehörigen vorgeben und an Themen haben. Der Dienst ist kostenlos für die Betroffenen.

Übrigens, am nächsten Tag war eine der Töchter von Herrn M. gekommen und er hat sich bei ihr und seiner Frau für die verlorene und nicht miteinander gelebte Zeit entschuldigt. Am darauffolgenden Tag ist er ganz ruhig und friedlich im Beisein seiner Frau und seiner Tochter verstorben.

Sabine Horn

Seelsorge im Hospiz

bedeutet hinhören und sich einlassen auf die sterbenden Menschen und ihre Familien. Seelsorge im Hospiz obliegt allen Berufsgruppen, nicht nur den Pfarrer:innen. Denn Seelsorge ist ein Auftrag an alle Christen. Sie ist Gespräch und Ritual: beten, gesalbt werden, Abendmahl feiern, Segen empfangen. Seelsorge im Hospiz heißt auch: gemeinsam am Totenbett den Abschied gestalten: mit Kerzen und Blumen, Texten und Musik und Gebeten und (Dankes-)Worten, die von allen, die mögen, an den Toten gerichtet werden. Diese Abschiedsfeiern werden im Hospiz Stuttgart in erster Linie von Pflegefachkräften gestaltet, der zentralen Berufsgruppe in der Palliative Care.

Elisabeth Kunze-Wünsch