Über die Autorin

Pfarrerin Annegret Zeyher ist Klinikpfarrerin am Zfp Calw, Klinikum Nordschwarzwald

Seelsorge in der Psychiatrie

Wenn der Mensch aus dem Gleichgewicht kommt …

»Frau Pfarrer, wir haben keinen Lebensmut mehr …«; Frau N. und Herr B., zwei Patienten aus der bedarfsgeschlossenen Station stehen gemeinsam an der Tür meines Seelsorge-Büros und bitten spontan um ein Gespräch. Obwohl die »To-do-Liste« auf meinem Schreibtisch lange ist, bitte ich die Beiden herein und lasse sie an meiner kleinen Tischgruppe Platz nehmen. Die Patientin mittleren Alters, die ich von wiederholten Klinikaufenthalten kenne, macht ihrer Bedrängnis zuerst Luft:

»Ich kann einfach nicht mehr, ich halte das alles nicht mehr aus …, dieses Leben auf der Station und auch die Perspektivlosigkeit! Wie soll das denn noch weiter gehen mit mir?«

Frau N. wirkt mutlos und resigniert. Zwei Suizidversuche hat sie hinter sich, zuletzt wurde sie von der 18-jährigen Tochter mit einer Überdosis an Medikamenten im häuslichen Badezimmer aufgefunden und erneut in die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie überwiesen. Eine schwierige Ehe, die langjährige Pflege und Versorgung der inzwischen verstorbenen Mutter, die Haushaltsführung mit drei heranwachsenden Kindern haben sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht. Den Kindern will sie eine gute Mutter sein, aber das Zusammenleben zuhause ist schwierig; durch überhöhten Alkoholkonsum hat sie die Probleme zeitweise verdeckt, sie empfindet sich als Belastung für ihre Familie. Eigentlich will sie nicht mehr nach Hause zurück:

»Ich schäme mich so vor meinen Kindern; ich bin ihnen doch nur eine Last«, klagt sie. »Wo, Bitteschön, soll ich denn hin?«

Herr B., ca. 45 Jahre alt, durch Medikamente sehr müde und gedämpft, bringt sich nun seinerseits ins Gespräch ein und beschreibt seine Nöte: Er wünscht sich, wieder in den Arbeitsprozess einzusteigen und eigenständig zu wohnen, doch die manisch-depressiven Phasen seiner Erkrankung hindern ihn seit Jahren an einem selbstbestimmten Leben und haben ihn mürbe gemacht. In einer beschützten Wohngemeinschaft kommt er zwar zurecht, doch die fast chronisch gewordene Erkrankung zwingt ihn immer wieder zu Klinikaufenthalten.

Die Solidarität beider Patienten auf Station hat sie gemeinsam die Klinikseelsorge aufsuchen lassen…

Seelsorge in der Psychiatrie heißt zu allererst: offen und sensibel zu sein; ansprechbar für die Nöte und Bedürftigkeiten, die Patienten äußern, mit denen sie sich an die Seelsorge wenden, sei es ganz spontan in der Begegnung auf einer Station oder auf dem Klinikgelände. Ein wichtiger geschützter Raum ist das Einzelgespräch im Büro, das häufig eine intensivere Begleitung möglich macht für Patienten, die durchschnittlich eine Aufenthaltsdauer von 3-4 Wochen haben oder mehrmals in die Klinik zurückkommen. Sehr oft sind es die wöchentlichen Angebote in den Räumen der Seelsorge – Abendgebet, Zeit der Stille, Gesprächsgruppen auf Station oder der Sonntagsgottesdienst, die Gelegenheit zum Kontakt bieten und vereinsamten Patienten wieder in die Gemeinschaft helfen.

Es kann in einer großen psychiatrischen Klinik nicht darum gehen, alle zu erreichen oder mit der Stoppuhr über die Stationen zu eilen. Vielmehr ist es wichtig, präsent und zeitnah erreichbar zu sein für die, die seelsorgliche Begleitung oder spontan ein Gespräch wünschen oder brauchen. Hilfreich ist es dabei, über einzelne Krankheitsbilder informiert zu sein: Angststörungen, Depression, bipolare Störungen, Psychosen, Schizophrenie oder Borderline-Symptomatik; meist sind es Mehrfachdiagnosen, oft kombiniert mit einer Suchtproblematik, die die Patienten zu einem Klinikaufenthalt zwingen: wenn eine Säule nach der anderen weg bricht, Gesundheit, Partnerschaft, Arbeitsleben, Wohnsituation, – wenn das Leben aus dem Gleichgewicht gerät, ist eine Klinikeinweisung oft ein erster Schutz vor Eigen- oder Fremdgefährdung.

Doch nicht um die Lösung dieser Gesamtproblematik geht es in der Klinikseelsorge, nicht um fertige Antworten oder darum ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es ist die wertschätzende und den Menschen würdigende Haltung, die ihm seine verletzte Würde zurückgibt, das einfühlende Interesse für den Einzelnen, das immer wieder heilsam erlebt wird und mitten im Chaos für kurze Zeit Licht ins Dunkel bringt.

Im Vertrauen auf den unverfügbaren Geist Gottes stellt sich die Klinikseelsorge den Herausforderungen, der Lebensangst und der Orientierungslosigkeit, die von den Patienten oft schonungslos ausgebreitet werden. Masken sind in der Psychiatrie weitgehend gefallen, die Patienten brauchen einander nichts vorzumachen. Aber sie brauchen umso mehr einen Menschen, der ihre Verletzlichkeit nicht missbraucht, sondern zuhört, der sich Zeit nimmt, der aufmerksam eine Wegstrecke mitgeht ….

So gestaltet sich die Klinikseelsorge in der Psychiatrie neben Therapie und medizinischer Begleitung als eigenständige und doch eine das therapeutische Team ergänzende Aufgabe, – als ein Angebot für Menschen, die in besonderer Weise die Präsenz der Kirche brauchen und die sie überraschend neu an diesem Ort erleben!

Kontakt und Informationen

Zentrum für Psychiatrie Calw, Klinikum Nordschwarzwald

Pfarrerin Annegret Zeyher

Klinikpfarrerin

Im Lützenhardter Hof
75365 Calw-Hirsau

Telefon: (07051) 586-2220

Mail: a.zeyher@kn-calw.de
Web: Seelsorge im Zentrum für Psychiatrie Calw